Superheld

Es wird nur ein Superheld, wer sich auch für super hält…
Vorletzte Woche sprach die Lehrerin unseres Sohnes zum ersten Mal ein Wort aus, von welchem wir ahnten, dass es irgendwann kommen wird: Neurosensitivität. Und obwohl wir Eltern schon lange vermuten, dass unser Kind neurosensitiv ist, war es nun doch irgendwie ein großer Moment, das von einer Pädagogin zu hören.
Mein Ex-Mann und ich sind beide neurosensitiv. Allerdings nicht mit derselben Ausprägung. Davon gibt es nämlich einige und von diesen möchte ich euch heute erzählen:
Zuallererst möchte ich mit einem Vorurteil aufräumen: Neurosensitiv zu sein bedeutet nämlich nicht, dass man gleich losheult, wenn man einen bösen Blick oder ein böses Wort erntet. Man muss sich die Neurosensitivität eher so vorstellen, dass diese Menschen besonders feine Sinneswahrnehmungen haben. Geräusche, Gerüche, Licht und Farben wirken auf sie besonders stark. Oft sind sie lärmempfindlich und von vielen Sinneseindrücken schneller überlastet als andere Menschen. Sie nehmen besonders die Feinheiten in zwischenmenschlichen Ebenen auf. Sie sind mitfühlend, hilfsbereit, empathisch, oft besonders genaue Zuhörer mit starker Intuition. Sie fühlen sich manchmal überfordert von der Last all dessen, was sie wahrnehmen, denn sie können oft den Schmerz anderer genauso fühlen als wäre es ihr eigener. Sie haben ein starkes Gefühl für Logik und für 'wahr oder falsch'. Sie denken in sehr komplexen Zusammenhängen. Sie haben oft besondere Begabungen auf wissenschaftlichem oder technischem Gebiet. Die Ausprägungen sind bei allen anders und sehr vielfältig. Man muss dabei auch zwischen dem «introvertierten» und «extrovertierten» Neurosensitiven unterscheiden. Ersterer verlässt zum Beispiel nur ungern seine Komfortzone und muss zuerst alles haargenau durchplanen und vorausdenken bevor er einen weiteren Schritt wagt. Hingegen der «Extrovertierte» hat keine Angst vor Neuem und begibt sich gerne freiwillig in die sogenannte «Lern- und Risikozone». Oft übernimmt er sich damit aber und landet dann rasch in der «Panikzone». Das ist die Zone, wovor sich alle «Typen» fürchten, weil sich dort die Gefühle überschlagen und ihnen alles zu viel wird…
Gerade bei Kindern äussert sich die Neurosensitivität oftmals in Dingen wie: Überempfindlichkeit (z.B. bei beissenden Stoffen, zu engen Schuhen/Hosen oder wegen der eingenähten Zettel oder den Nähten in den Kleidern). Sie haben vielleicht Angst vor neuen, ungewohnten Situationen oder sind grundsätzlich schneller am Limit oder überwältigt und in Folge blockiert. Sie können sehr nachdenklich sein, sind oft ungute Verlierer (Spiele, Wettbewerbssituationen) und haben mehrheitlich Angst davor etwas falsch zu machen. Es könnte auch passieren, dass sie sehr traurig nach Hause kommen, weil ihr Pultnachbar eine schlechte Note geschrieben hat. Das, obwohl sie selbst eine sehr gute Note geschrieben haben. Einfach weil sie so sehr mit dem Freund mitfühlen. Sie können plötzlich unkontrolliert toben, weil sie sich infolge zu vieler Eindrücke in einer Notsituation befinden und überfordert sind. Neurosensitive Kinder werden auch oft als «Träumer» betitelt und viele Eltern merken nicht, dass solche Kinder zu viele Worte auf einmal gar nicht aufnehmen können…
Diese Liste ist längst nicht abschliessend. Es gibt noch viele andere Anzeichen und Ausprägungen in der Neurosensitivität. Vielleicht habt ihr aus eigener Erfahrung noch mehr Beispiele. Und jetzt Achtung: Klar bringen viele Kinder diese oder ähnliche Eigenschaften sowieso mit, ohne dass sie neurosensitiv sind. Aber es gibt bei Neurosensitiven immer diesen einen feinen Unterschied zu den «bekannten Phasen» die wir alle kennen. Ihr werdet die Abweichung merken. Und sonst ist euer Kind eher nicht neurosensitiv.
Wenn man die neurosensitiven Eigenschaften so liest, hört sich alles auf den ersten Blick vielleicht eher negativ an. Aber das ist es imfall gar nicht. Oder zumindest nur so lange, man a) nicht weiss, dass man neurosensitiv ist und b) nicht weiss, wie man damit umgehen kann. Neurosensitivität ist nämlich keine Krankheit. Neurosensitiv zu sein ist eine sehr schöne Eigenschaft. Eine Begabung.
Mein Sohn zum Beispiel merkt immer sofort, wenn ich zu Hause umgestellt habe, beim Coiffeur war, ein anderes Parfum ausprobiert habe oder ein neues Kleidungsstück trage. Und das fällt imfall bei weitem nicht immer allen Familienmitgliedern auf… ;-) Dies, um nur ein paar wunderbare Eigenschaften eines neurosensitiven Menschen zu nennen.
Jetzt aber zurück zum Elterngespräch: Die Klasse unseres Sohnes zählt 18 Schüler. Die Frau Lehrerin unterrichtet immer allein und kann sich logischerweise niemals um alle persönlichen Anliegen eines jeden Kindes kümmern. Wir verstehen das und schauen dieser Tatsache entspannt entgegen. Einerseits wissen wir aus eigener Erfahrung, dass es gut möglich ist, sich als neurosensitive Person im Alltag zu integrieren. Andererseits wissen wir dank diesem letzten Elterngespräch, dass unser Sohn in guten Händen ist. Die Lehrerin sagte nämlich abschließend noch folgenden wichtigen Satz zu uns: „Es ist nicht ihr Kind, das nicht ins System passt. Es ist das System, das nicht zu ihrem Kind passt“. Und ich hätte sie küssen können. Ich bin so dankbar, dass sie das auch so sieht. Eine solche Einstellung in der heutigen Zeit ist leider nicht selbstverständlich, aber goldwert.
So führe ich meinen Sohn nun also ein in die „Welt der Neurosensitivität". Als oberste Priorität steht dabei im Fokus, dass er super ist, so wie er ist. Wir haben uns dafür auch einiges an Literatur angeschafft. Und ja, wie soll ich sagen: Es ist nicht immer einfach – gerade, weil wir beide neurosensitiv sind - aber wir arbeiten daran. Tag für Tag, Schritt für Schritt. Und dabei verbuchen wir immer wieder Rückschritte, machen aber auch ganz viele Fortschritte. Und es ist einfach schön mit anzusehen, wie er langsam aber sicher seine «empfindsame Superkraft» kennen lernt. Und wir machen so lange weiter, bis er sie auch lieben lernt.