Sieben Minuten

Vor etwa drei Wochen bin ich zufällig auf ein Buch gestoßen: Die Biografie eines Mannes, der das Thema «weibliche Gewalt» enttabuisiert. Wie man auf dem Buchrücken lesen kann, wurde er selbst als Kind schwer misshandelt und flüchtete sich still in eine Traumwelt. Erst viel später, nach einem schweren Nervenzusammenbruch, konnte er das Unaussprechliche erstmals formulieren und aus der Erwachsenenperspektive analysieren. Und das alles und noch viel mehr hat er nun in einer Biografie niedergeschrieben.
Ich war bisher nicht die typische Biografie-Leserin. Ich lese zwar viel, aber meistens eher spannende Thriller. Aber diese Biografie habe ich an drei Abenden verschlungen und dabei so viele Emotionen durchlebt, wie ich es bisher selten beim Lesen eines Buches hatte. Vor allem beschäftigte mich immer wieder die Frage: «Wie viel kann ein Mensch eigentlich ertragen?»
Als die allerletzte Seite gelesen und die letzte Träne vergossen war, setzte ich mich an meinen Schreibtisch und schrieb dem Autor einen Brief. Ich gratulierte ihm zu seinem Werk, lobte ihn für seinen Mut und verneigte mich «buchstäblich» vor ihm. Natürlich hatte ich ab und zu den Gedanken, ob meine Worte überhaupt gehört werden wollen und wie mein Brief bei ihm ankommen würde, aber trotz aller Zweifel wusste ich gleichzeitig ganz genau, dass ich diese Worte schreiben musste. Ein paar Google-Minuten später hatte ich auch seine Adresse herausgefunden und so schickte ich den Brief auf die Reise nach Zürich ...
Als gestern mein Handy klingelte, ging ich sofort ran, weil ich einen Anruf erwartete. Ich hörte am anderen Ende eine männliche Stimme, die ganz langsam ihren Vor- und Nachnamen sagte. Danach war es still. Ich war kurz verwirrt, weil ich den Namen nicht sofort zuordnen konnte und auch nicht wusste, wie ich jetzt reagieren sollte. Und so blieb es für ein paar Sekunden auf beiden Seiten still. Mein Blick wanderte über meinen Schreibtisch und blieb an einem Buch hängen, das dort schon seit Tagen lag, und in diesem Moment fiel mir auch der Groschen: Am anderen Ende der Leitung war der Autor der unglaublichen Biografie, die ich gerade gelesen hatte.
Wer mich kennt, weiß, dass mir das Sprechen in der Regel nicht schwerfällt und man mich deshalb nicht oft sprachlos sieht, aber dieser Moment war so besonders, dass sich Schnappatmung und stotternde Sätze abwechselten und ich schließlich sagte: «Jetz muessi zerst mau abhocke!» Das fröhliche Lachen am anderen Ende der Leitung entspannte mich, und als er das Gespräch übernahm und mir das «Du» anbot, war der Damm gebrochen. Kurt und ich haben nicht lange telefoniert, mein Handy sagt, es seien sieben Minuten gewesen. Aber diese kurze Zeit hat mich mitten ins Herz getroffen und noch heute muss ich immer wieder langsam den Kopf schütteln und über diesen oder jenen Moment schmunzeln.
Kurt hat ein unglaublich bewegendes Leben hinter sich. Bewegend ist vielleicht nicht das richtige Wort, und eigentlich muss man sogar sagen, dass es ein Wunder ist, dass er überhaupt noch lebt. Oder besser: Dass er das alles überlebt hat! Und dazu kommt noch, dass er wahnsinnig viel Humor hat und trotz aller Widrigkeiten ein so lebensbejahender Mensch geworden ist. Das ist für mich wirklich unglaublich! Ich kann es kaum in Worte fassen, aber ich habe den allergrößten Respekt vor diesem Menschen und seiner unglaublichen Geschichte. Eine gewaltige Geschichte.
Was mich in diesen sieben Minuten aber besonders berührt hat, ist die Tatsache, dass ich bisher anscheinend die erste und einzige Person bin, die ihn auf sein Buch angesprochen hat. Er hat schon einige Bücher verkauft, viele auch verschenkt, aber niemand spricht mit ihm darüber. Die Menschen sprechen ihn zwar noch an oder grüßen ihn beim Einkaufen, aber alle weichen «dem Thema» aus. Niemand will offenbar mit ihm über dieses Buch und seine Geschichte reden. Das musst du dir mal vorstellen: Wenn du so schreckliche Dinge erlebt hast und nach vielen Jahren den Mut findest, darüber zu schreiben und damit an die Öffentlichkeit zu gehen, dann bist du natürlich wahnsinnig nervös. Wie werden die Reaktionen sein? Welche Meinungen werden sich die Leser bilden? Wie werden sie das Buch finden? Und wenn dann aber gar keine Reaktionen kommen, ist das fast noch schlimmer, als wenn dir jemand sagt, dass er dein Buch schlecht findet. Man hängt dann nämlich irgendwo in der Luft und weiß nicht, was die Leute jetzt von einem denken. Schließlich hat man zwischen zwei Buchdeckeln auf 160 Seiten sein Herz ausgeschüttet und gnadenlos die Hosen runtergelassen. Jeder der es wissen will kennt jetzt die tiefsten Abgründe deines Lebens ...
Erst als er mir das erzählte, wurde mir klar, wie wichtig mein Brief war. Kurt war überglücklich und meinte, ich könne mir gar nicht vorstellen, wie gut ihm meine Zeilen getan hätten. Und ja, ich wusste es zuvor tatsächlich nicht, aber ich spürte es jetzt durch die Telefonleitung in jedem Ton seiner Stimme. Ich weiß nicht mehr, wie oft er sich bei mir bedankt hat, aber mein Herz ist während unseres Gesprächs ein paar Mal aufgegangen.
Kurt und ich werden uns im neuen Jahr treffen, das haben wir uns versprochen und ich freue mich sehr darauf. Wieder einmal bin ich so dankbar, dass ich auf meine Intuition gehört habe und nicht lange darüber nachgedacht habe, ob mein Handeln gut oder schlecht ankommen könnte. Manchmal denken wir einfach viel zu viel nach und stehen uns damit am Ende selbst im Weg. Und das wäre in manchen Fällen wirklich sehr, sehr schade ...