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Drei Minuten

In einem meiner letzten Beiträge hatte ich über die Telefonanrufe aus der Schule berichtet. Ich habe daraufhin von vielen Eltern Rückmeldungen bekommen und dabei vernommen, dass Lehrer nicht nur bei uns zu Hause oft anrufen. Irgendwie beruhigend... Telefonanrufe aus der Schule gab es bei uns in den letzten Wochen (zum Glück) keine mehr. Ein bisschen überrascht war ich aber schon, als ich dafür kürzlich einen Zettel im «Znüniböxli» entdeckte. Eine Nachricht von der Kindergärtnerin. Mein Sohn hätte einen Teil seines Znünis in den Abfalleimer geworfen, weil ihm die Nüsse nicht schmeckten. Ich solle das bitte mit ihm besprechen. Die Informationen schlichen im Schritttempo durch meine Gehirnwindungen. Und dann überkam mich auf einmal wieder so ein ungutes Gefühl. Eins war mir sofort klar: Ich werde zwar mit meinem Sohn natürlich darüber reden, aber diesmal werde ich nicht mit ihm schimpfen.

Sehr geehrte Lehrer und Lehrerinnen, seid mir bitte nicht böse, aber mir drängt sich die Frage auf: Müssen Eltern unbedingt wissen, dass ihr Kind einen Teil seines Znünis in den Abfalleimer geworfen hat? Und was sollen wir eigentlich mit den Informationen anfangen, dass der Sohn davongerannt ist und auch dann nicht zurückkam, als sie ihn darum baten? Oder damit, dass die Tochter einmal nicht aufmerksam zugehört hatte? Oder dass ein anderer das Basteln blöd findet?

Kürzlich gewährte mir eine Freundin (selbst Lehrerin) einen kleinen Einblick ins Lehrerleben. Zuallererst erklärte sie mir, dass die Schule heutzutage sehr oft Anrufe von besorgten Eltern erhalte. «Änneli» hat das «Heidi» in den Dreck geworfen und der «Fritzli» hat mit Ästen gespielt, als seien diese Waffen und das habe den «Reto» sehr irritiert. Wenn die Lehrer diese Vorkommnisse sofort im entsprechenden Elternhaus melden, können sie dann Vater und Mutter von «Heidi» und «Reto» Paroli bieten, weil die anderen Eltern ja bereits informiert sind. Und zack: alle sind wieder beruhigt.

Diese Erkenntnis liefert ein kleines bisschen Erklärung, warum die Lehrer oft wegen jedem «Brunz» zu Hause anrufen. Und sehr oft sind es aber Dinge, die wirklich wichtig sind. Dinge halt, die immer und sofort gemeldet werden müssen (ich hatte darüber schon mal berichtet: «Buben sind anders, Mädchen auch»). Aber Nüsse im Abfalleimer gehören für mich einfach nicht zu den «wichtigen Dingen».

Wir haben dann weiter darüber geredet, dass Lehrer heute zu wenig Zeit haben sich um jedes Kind zu kümmern. Dabei ist dann diese sehr pragmatische Rechnung entstanden: Wenn wir davon ausgehen, dass in einer Klasse 20 Schüler und Schülerinnen sitzen, dann hat die Lehrerin/der Lehrer während einer ganzen Stunde gerade mal 3 Minuten Zeit für ein einziges Kind. Und in diesen d r e i Minuten kann sie ihm wohl auch nicht die volle Aufmerksamkeit schenken, weil es in der Schule sowieso immer zu und her geht wie im «hölzernen Himmel». Und ganz ehrlich: Wenn ich es aus diesem Blickwinkel betrachte, muss ich doch sagen ist es eigentlich beruhigend, dass sich über die restlichen 57 Minuten noch nie jemand bei uns beschwert hat. Man könnte sogar noch einen Schritt weitergehen und behaupten: zu 95% benimmt sich unser Sohn also so wie es die Schule gerne möchte. Und das finde ich beachtlich, weil zu Hause wäre diese Zahl imfall tiefer… viel tiefer.

Ich möchte diese Zeitrechnung oder das erwähnte Verhalten ganz und gar nicht jeder Schule pauschal überstülpen. Das wäre zu einfach. Aber ich wünsche mir halt vor allem, dass jedes Kind die Aufmerksamkeit verdient, die es braucht. Es ist leider längst kein Geheimnis mehr, dass Schulkinder nicht als Individuum betrachtet werden. Passt ein Kind nicht haargenau ins Schema F, wird es sehr schnell zum «Problemkind». Und im allerschlimmsten Fall wird ihm sogar eine Aufmerksamkeitsstörung diagnostiziert.

Was passierte eigentlich «früher» mit den Kindern, die nicht ins «Schema» passten? «E Chlapf zum Gring» und gut wars? Lief das tatsächlich so? Oder gab es früher einfach weniger «Problemkinder»? Riefen da die Eltern auch dauernd in der Schule an? Ich glaube nicht. Aber ich kann all’ diese Fragen hier und jetzt leider auch nicht beantworten.

Meine Freundin fragte mich jedenfalls am Schluss unseres Gespräches, wieso wir Eltern eigentlich die Meinung der Lehrer immer so stark gewichten würden. Und ja, ich fühlte mich ertappt. Die Lehrer haben eine pädagogische Ausbildung, wissen somit genau wie man mit Kindern muss oder eben nicht soll. Und sie wissen wie weit Kinder in Ihrer Entwicklung sein sollen und was alles noch in den «normalen Rahmen» passt. Doch Hand aufs Herz: Was genau ist denn heute eigentlich noch «normal»? Wer definiert «normal»? Diese Fragen bringen mich zu oft gehörten Gesprächen unter Eltern, die in etwa so lauten: «Mein Kind kann noch immer nicht laufen und das obwohl es schon einjährig ist!» oder «Mein Kleiner ist fünf und kann noch immer nicht die Schnürsenkel binden!». Und dann gibt’s da auch noch die, die finden ihr Kind sollte mit neun wirklich langsam das 1x1 flüssig können. Ist das alles wirklich so wichtig? Wollen wir mal alle zusammen nach «Roger Federer» googeln um herauszufinden, wann er zum ersten Mal seine Tennisschuhe selbst binden konnte?

Zurück zum Thema: Ja, wir sind Eltern «ohne Ausbildung zum Elternsein». Aber hey, wir sind Eltern von u n s e r e n Kindern und wir wissen doch am besten, wie diese ticken, was sie brauchen oder eben gerade nicht. Und da bringt es imfall niemandem was, wenn auch Eltern ihre Kinder schon ab dem ersten Atemzug mit anderen vergleichen. Und die Meinung der Lehrer ist natürlich auch wichtig, keine Frage. Aber warum stellt man diese Meinung dann gleich über alles? Denn trotz aller verschiedener Ansichten; eine Tatsache bleibt doch immer dieselbe: Manche Kinder sind frühreif, andere lernen etwas später, die einen malen gerne, die anderen spielen lieber Unihockey. Die eine schreibt nicht sehr schön, dafür kann sie am schnellsten rechnen. Der andere kann gar nichts mit Zahlen anfangen, hat aber die kreativsten Ideen. Die eine ist eine Träumerin und fühlt sich am Fensterplatz am wohlsten, der andere kann kaum eine Minute stillsitzen, weil er davon träumt Profifussballer zu werden. Einfach gesagt: Jeder ist ein Individuum. Und für ein aussagekräftiges Gesamtbild reichen drei (einigermassen) aufmerksame Minuten halt einfach nicht aus. Und ich glaube, das war auch schon bei unserem «Rotscher» so. Imfall.