Die Reise des Zweifränklers

Eine etwas andere Weihnachtsgeschichte
Bestimmt kennen alle Eltern diese «Phase», wenn Kinder zum Beispiel bei Parkuhren auf die Rückgeld-Taste drücken, um zu sehen, ob diese noch eine Münze ausspuckt. Immer mit der grossen Hoffnung, dass sie jetzt ihr Sackgeld aufbessern können. Ähnliches machen meine Kinder manchmal auch bei den Garderobenschränken des Hallenbades. Sie laufen durch die Gänge und kontrollieren überall, ob jemand seine Münze hat liegen lassen. Erst ein einziges Mal hatte Kind 3 Glück und konnte so einen Zweifränkler ergattern.
Letzten Winter, als Kind 4 einen weiteren Schwimmkurs erfolgreich beendet hatte, geschah folgende Geschichte. Wir waren gerade fertig angezogen und ich ging ein paar Schritte voraus Richtung Ausgang. Mein Sohn hüpfte fröhlich hinter mir her und trällerte in einem halb gesungenen, halb gesprochenen Singsang «Ig ha-a Glück gha. Ig ha-a Glück gha…». Ich hatte das zwar gehört, aber war – eingepackt im Wintermantel – vor allem daran interessiert, möglichst schnell aus dieser viel zu warmen Garderobe herauszukommen. Und sowieso war für mich irgendwie klar, dass dieser «Glück-gha»-Song dem bestandenen Schwimmkurs galt. Als wir später bei unserem Auto angekommen waren, und er immer noch sein glückliches Liedchen trällerte, fragte ich dann aber doch nach, was er denn da eigentlich genau singe? Er strahlte über beide Backen und streckte mir ein Zweifrankenstück entgegen. «Ig ha imene Garderobeschrank e Münze gfunge» erklärte er. Ich lächelte zurück, weil ich wusste, wie lange er sich diesen Moment gewünscht hatte. Also eigentlich genau seit Tag X, als sein Bruder eine Münze im Spint fand…
Während dem Fahren ertappte ich mich kurz beim Gedanken, wie oft ich wohl schon meine Münze im Spint vergessen hatte und damit unbewusst einem Kind ein Strahlen ins Gesicht zaubern durfte. So wird ein Verlieren doch sofort zu einem Gewinn…
Die ganze Fahrt über strahlte mein Sohn und schaute immer wieder voller Stolz die Münze in seiner Hand an. Auf einmal hörte ich ihn murmeln: «Hach, ig bi doch eifach e Glückspilz, dass i däm Schrank mit de Chleider no e Münze isch gläge….». Ich stockte kurz und fragte nach, was das heisse: «Schrank MIT de Chleider». Das Kind lächelte weiter und erklärte: «Eh ja, i däm Schrank hets haut dasmou no Chleider drinne gha…». Ich schluckte schwer und musste mich kurz sammeln, bevor ich dann nachfragte: «Auso i däm Schrank wo du dr Zwöifränkler hesch usegnoh, si no Chleider drinne gsi?». «Eh ja» antwortete er und zuckte mit den Schultern. «Nei, das darfsch doch nid», hörte ich mich sagen. Und danach erklärte ich ihm, dass somit noch eine Besitzerin da gewesen wäre, die dann später ihren Zweifränkler sicher noch hätte aus dem Spint genommen. Wir sprachen dann darüber in welchem Fall es okay sei die Münze zu nehmen und wann eben nicht.
Mein Sohn wurde immer ruhiger und stammelte verlegen: «Das hani nid gwüsst!». Und das hingegen, wusste ich. Darum habe ich ihm auch versichert, dass das jetzt kein Drama sei, aber gleichzeitig erklärt, dass er das nicht mehr tun dürfe. Mein Sohn war still geworden. Er sang nicht mehr und das Strahlen in seinen Augen war verschwunden. Auf einmal streckte er mir den Zweifränkler durch die Luft entgegen und sagte: «Mama, nimm du dä i dis Portemonnaie. Ig ha dä nid verdient.» In mir machte sich eine Mischung aus Liebe und Stolz aber auch ein bisschen Traurigkeit breit. Ich lächelte etwas unsicher und erklärte ihm, dass ich diese Münze auch nicht in meinem Portemonnaie haben möchte, denn ich hätte diese Münze ja irgendwie auch nicht verdient. Sein Blick wanderte immer wieder unschlüssig von mir auf die Münze und wieder zu mir zurück. Irgendwann habe ich dann unser «Geheimschublädli» im Auto aufgemacht und ihm gesagt, er solle die Münze afe mal dort reinwerfen. Dort liegen bereits einige andere Münzen, die wir jeweils für die Parkuhren brauchen. Gesagt – getan. Mein Sohn war sichtlich erleichtert, als die Münze im Geheimfach und somit aus seinen Augen verschwand und wir sprachen die ganze Fahrt über nichts mehr.
Die Geschichte beschäftigte mich weiter. Was mache ich denn jetzt mit diesem «blöden Zweifränkler»? Klar, ich könnte ihn einfach im Geheimfach vergessen. Oder ich könnte ihn bei einer Parkuhr ins Ausgabefach legen, damit ein anderes Kind ein Erfolgserlebnis verbuchen kann. Oder beim nächsten Mal im Hallenbad wieder in eine Garderobe legen. Aber irgendwie waren diese Ideen alle nicht so richtig stimmig für mich. Also haben wir ein paar Tage später zusammen einen Plan geschmiedet. Den Zweifränkler zügelten wir in meine Handtasche und hielten ab da immer wieder Ausschau nach Obdachlosen und/oder Strassenmusikern. Und mein Kind durfte auslesen, welcher von all diesen den Zweifränkler bekommen soll.
Es dauerte einen Moment bis wir den «richtigen Adressaten» gefunden hatten. Mein Kind ging etwas zögerlich, aber trotzdem zielsicher zum singenden Mann und legte ihm den Zweifränkler in seinen Hut. Dafür erntete er das schönste zahnlose Lächeln, das ich wohl nie mehr vergessen werde. Und mein Sohn lächelte zurück. Stolz, zwar auch ein bisschen ängstlich, aber irgendwie erleichtert. Einen kleinen Moment musste ich grinsen, weil ich mir vorstellte, wie gross die Augen meines Sohnes jetzt werden würden, wenn der zahnlose Mann plötzlich auf seinem Instrument «Ig ha-a Glück gha» spielen würde. Das tat er natürlich nicht. Aber ich glaube tatsächlich, dass der arme Mann diesen speziellen Glücksmoment auch spüren konnte…
Während wir zurück zum Auto liefen, legte mein Sohn seine Hand in meine, strahlte über das ganze Gesicht und sagte: «Är het dä Zwöifränkler ganz sicher verdient». Und oh ja, das glaube ich auch. Das glaube ich wahrlich auch. Ich hatte nämlich keine Sekunde das Gefühl, dass dem Mann die Münze selbst so richtig wichtig war. Der Moment an sich hatte viel mehr Bedeutung. Mag sein, dass ich das überinterpretiert habe oder bereits in zu krass-kitschiger-Weihnachtsstimmung war, aber ich will daran festhalten und daran glauben, dass dies ein magischer Herzmoment war. Und solche Momente erreichen Stellen, da kommt Geld niemals hin.
Ich bin jedenfalls froh, konnten wir die Münze weiterreichen. Und trotzdem muss ich auch zugeben, dass es mich schon schampar interessieren würde, wie die Reise des «Zweifränklers» danach weiterging. Aber der Ausgang dieser Geschichte bleibt wohl für immer ein Geheimnis; in einem «Geheimschublädli» im Herz eines zahnlosen Mannes.