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Kopflos

Soweit sie sich erinnern kann, war sie eine Geschäftsfrau. Gefühlt ihr Leben lang. Managte Kinder, Haus und Firma. War immer und jederzeit für alle auf Abruf. Nicht oft hatte sie Zeit für sich selbst, aber ihre Bedürfnisse steckte sie gerne zurück. Denn trotz allem war sie selten unglücklich. Sie lebte ihr Leben genauso, wie sie es gerne mochte. Bewegen. Wirken. Tun. Sie war eine Macherin. Ihr Leben lang. Bis gestern.
Heute feiert sie ihren 80. Geburtstag. Ruhig sitzt sie da, versunken in Gedanken. Sie schaut sich um und beobachtet all’ die Menschen, die hier mit ihr am Tisch sitzen. So viele schöne Augen, kleine und grosse Nasen, flinke Finger, raue Hände. Hier ein lautes Lachen, dort ein Klirren und ganz viel Stimmengewirr. Ihre Hand wird abermals gedrückt. Geschenke werden ihr zugeschoben und gleichzeitig wird sie immer wieder beglückwünscht. Sie begrüsst, lächelt und bedankt sich. Auspacken muss sie nichts. Fast alle schenken Blumen. So viele Blumen. Wo sie die alle hinstellen soll? Hat sie überhaupt genug Vasen zu Hause? Sie schaut wieder in die Gesichter der Menschen, die mit ihr am Tisch sitzen. Und erneut fragt sie sich: Wer sind all’ diese Leute?
Sie weiss es nicht. Erinnerungen ausgelöscht. Kopflos. Vielleicht morgen wieder…

Hier sitzt sie nun. Bedankt, nickt und lächelt tapfer weiter. Und als sie schliesslich nach einem Taschentuch greift, um sich die Nase zu schnäuzen, nimmt der Mann neben ihr sie sanft am Arm und signalisiert ihr aufzustehen. Warum sie nicht in dieses grosse, weisse Tischtuch schnäuzen darf, versteht sie nicht. Die vielen schönen Augen werden auf einmal riesengross.
Sie weiss nicht warum. Erinnerungen ausgelöscht. Kopflos. Vielleicht morgen wieder…

Sie lächelt, winkt und verabschiedet sich. Der Mann bringt sie nach Hause.
Hier sitzt sie nun. In einem dunklen Wohnzimmer. Das Geburtstagsfest ist vorbei. Ihr gegenüber am kleinen Esstisch sitzt der Mann. Ihr Mann. Jedenfalls vermutet sie, es sei ihr Mann. Wieso solle er sonst hier sein? In ihrem Haus. Sie schaut sich um. Oder ist das etwa gar nicht ihr Haus? Sie hatte jedenfalls zuvor noch nie so viele Blumen in ihrem Haus gesehen. Wo kamen all‘ diese Blumen her?

Soweit sie sich erinnern kann, war sie eine Gärtnerin. Sie liebte die Natur. Sie kannte die lateinischen Namen aller Pflanzen auswendig und ihr Garten war ein Blumenparadies. Oft schlenderte sie barfuss und gedankenversunken durch die geschwungenen Pfade und redete dabei mit den Bäumen, den Sträuchern und sogar mit den Bienen. Sie mochte das Zirpen der Grillen und das Pfeifen der Vögel. Sie hegte und pflegte. Ihr Leben lang. Bis heute.

Und vielleicht auch morgen wieder…

Sie weiss es nicht. Erinnerungen ausgelöscht. Kopflos.