Das bittere Ende

Da wir gezwungenermaßen im letzten Jahr mehr Zeit mit uns selbst verbringen durften, wurden die „eigenen Baustellen“ auf einmal wieder viel klarer. Emu bei mir schon. Ich merkte zum Beispiel, dass mir die „Zeit für mich“ sehr fehlt. Mit 4 Kindern, einem Job und einem Bauernhof gibt es immer viel zu tun. Und wenn ich tatsächlich mal ein Zeitfenster fürs „nichts tun“ erhasche, steht bestimmt schon wieder jemand da und ruft nach mir. Hat man als Familienmanagerin und als selbständig Arbeitende eigentlich kein Anrecht auf „Pausen“?
Einander helfen und füreinander da zu sein ist mir sehr wichtig. Gerade in der eigenen Familie oder dem engsten Freundeskreis. Wer mich kennt weiss auch, dass ich wirklich immer helfe, wo ich kann. Aber diese Selbstverständlichkeit, dass ich immer und jederzeit auf Abruf bin, die nervt mich manchmal schon. Jeder braucht doch seine Ruheoasen. Auch ich. Eigentlich finde ich es erstaunlich, dass mich noch keiner beauftragte den Klimawandel zu stoppen, den Regen in Sonne umzuwandeln oder die Hungersnot in Was-weiss-ich-wo aufzuheben. Weil gefühlt bin ich afe bei allen Problemen, jedem Wehwehchen und einfach jedem Hafechäs die Hotline geworden.
Und jetzt Achtung: Was denkt ihr, warum ist das so?
Die Antwort ist ganz einfach: Weil ich halt immer auf Abruf bin.
Ich sage selten „Nein“ und ich springe auch gerne im Dreieck. Das passt zu meinem Naturell. Und genau da liegt doch der Hund begraben. Ich selbst habe mit den vielen verpassten „Neins“ dieses Callcenter eröffnet. Und jetzt mal Hand aufs Herz: Muss man den Anruf beim Mittagessen unbedingt entgegennehmen? Oder die SMS noch hurti zwischen dem ersten und dem zweiten Bissen beantworten? Dies obwohl mit dir am Tisch gerade dein Lieblingsmensch, die Familie oder gute Freude sitzen? Wenn ich beim Einkaufen bin, darf ich auch mal den Anruf unbeantwortet lassen, weil ich ja jetzt eigentlich am Arbeiten bin? Und wird eigentlich die Welt aufhören zu drehen, wenn ich erst nach einer 30-minütigen Pause zurückschreibe?
Hierzu muss ich jetzt aber auch ein bisschen bluffen: Das mit dem Handy habe ich nämlich afe ganz gut im Griff. Ich habe es jedenfalls bei uns zu Hause schon fast geschafft, dass die Natels während der Essenszeiten am Tisch nichts mehr verloren haben (zugegeben: das war ein Prozess). Anders sieht es allerdings aus mit dem „Nein sagen“. Dieser Prozess scheint mir noch nicht abgeschlossen zu sein…
Umso stolzer war ich also die Tage – nachdem ich das Problem mal wieder erkannt hatte - dass ich ein herzhaftes „Nein“ ausgesprochen habe. Und gellen Sie; ein ehrlich gemeintes „Nein“ ist ja immer ein „Ja“ zu dir selbst. Just sayin. Ich war hauptsächlich darum stolz, weil ich die Reaktion des Gegenübers ganz genau kannte. Und die beinhaltete vor allem eins: Unverständnis.
Bereits am nächsten Tag schlich sich dann das schlechte Gewissen in meine Gedanken. Ach, es ist eine never-ending-Sache mit diesem blöden Gewissen. Und wie paradox es doch ist: Man hat ein schlechtes Gefühl, wenn man zu jemandem „Nein“ sagt, es löst aber kein ungutes Gefühl aus, wenn wir zu uns selbst „nein“ sagen. Völlig verrückt, oder? Warum ist das nur so schwer?
Ich kann euch leider auch keine Patentlösung anbieten, wie man überzeugt „nein“ sagen kann, ohne dabei bei sich selbst ein schlechtes Gewissen zu provozieren. Aber ich muss euch unbedingt raten (auch wenn ihrs bestimmt schon gefühlt 1000x gehört habt): Sagt nie „Ja“ zu etwas, das sich nach einem „Nein“ anfühlt. Und wenn ihr das geschafft habt, gibt es eigentlich nur noch zwei Dinge, worauf ihr euch einstellen solltet: 1. Dem schlechten Gewissen sofort und immer wieder den Stinkfinger zeigen und 2. die „schlechten Vibes“ aushalten. Aushalten, aushalten, aushalten. Und zwar bis zum bitteren Ende. Und halten wir uns dabei immer eins vor Augen: Wenn das Ende „bitter“ ist, dann hätte diese Person ein „Ja“ sowieso niemals verdient. Niemals.
Nur dass wir vom selben sprechen: „Egoistisch sein“ finde ich nicht eine gute Eigenschaft, aber du darfst freundlich sein, ein grosses Herz haben und trotzdem auch mal „Nein“ sagen! Und dies besonders, wenn du die letzten drei Mal „Ja“ gesagt hast. Wenn jeder von uns jetzt subito anfängt, bei einem kassierten „Nein“ des Gegenübers kulant zu reagieren, dann schaffen wir zusammen vielleicht sogar ein Wunder.
Ich habe mal irgendwo den Spruch gelesen: „Wenn du lernst „Nein“ zu sagen, wird man dein „Ja“ wieder viel mehr schätzen“. Ist es nicht so? Ich will darauf hoffen. Wenn nötig bis zum bitteren Ende…