Buben sind anders, Mädchen auch

Alles hatte so schön angefangen. Der viel zu grosse Schulranzen auf dem Rücken dieses viel zu kleinen Kindes mit der Zahnlücke, gefolgt vom ersten grossen Schultag. Hach wie süss, sagten alle. Hach wie gross er doch schon ist, dachten wir. Und dann kam der Tag X. Und mit ihm der erste Anruf aus der Schule: «Ihr Sohn hat sich geprügelt!» Ich erinnere mich noch ganz genau wie sich dieses Gespräch angefühlt hat, nämlich gar nicht gut. Immerhin hatte die Lehrerin extra deswegen angerufen das konnte also nichts Gutes bedeuten.
Man kann sich vorstellen was dann passiert ist. Natürlich haben Mama und Papa mit dem Kind geschimpft und ihm erklärt, dass das so nicht geht. Aber einmal ist bekanntlich keinmal, also ging es nahtlos weiter. Kaum hatte sich die «Schulseite» beruhigt, kamen die Anrufe aus dem Kindergarten. Einmal brachte der Kleinere ein Mädchen zum Weinen, dann gab es Probleme beim Basteln und Malen, weil er sich weigerte bei diesem «Mädchenkram» mitzumachen. Und wieder ein anderes Mal hat er jemanden gestossen und natürlich – man ahnt es schon - wieder ein Mädchen. Ich schlug die Hände über dem Kopf zusammen, war ehrlich verzweifelt, stellte unsere Erziehung in Frage und redete und schimpfte mit ihm.
Doch je mehr ich über das Geschehene nachdachte und mich auch mit anderen Müttern austauschte, desto nachdenklicher wurde ich. Und zwar so sehr, dass ich jetzt eine sehr provokative Frage stellen muss: Hätte man mich auch angerufen, wenn das umgefallene oder weinende Kind kein Mädchen gewesen wäre? Langsam beschlich mich nämlich ein komisches Gefühl: Kann es sein, dass Mädchen mehr verteidigt und «beschützt» werden als Jungen? Wenn das so wäre, dann frage ich mich weiter: Müssen Mädchen heute nicht mehr lernen, ihre Ellenbogen einzusetzen? Ich habe da jedenfalls andere Erinnerungen an meine Schulzeit. Zum Beispiel an den Herrn Lehrer, der mir seinen Schlüsselbund mitten ins Gesicht warf. Oder wie derselbe so lange an meinen «Grännihaaren» riss, bis er den Kampf mit einer Handvoll Haare gewann ... Ja, ich weiss, der Vergleich hinkt. Wir leben heute in einer anderen Zeit; zum Glück auch. Versteht mich nicht falsch, ich bin absolut dagegen, dass jemand ernsthaft verletzt wird. Wenn mein Kind einem anderen Kind die Nase blutig schlägt, dann will ich das natürlich sofort wissen. Und zwar auch wenn das andere Kind ein Junge ist. Ich bin auch vehement gegen Mobbing, solche Fälle müssen immer und sofort gemeldet werden. Aber in allen genannten Fällen ging es weder um das eine noch um das andere.
Meine beiden Kinder sind Buben. Und Buben – ja, man weiss es - machen sich gerne schmutzig, klettern auf Bäume und sie kommen fast täglich mit einem aufgeschlagenen Knie, einem aufgeschürften Ellenbogen oder einer zerrissenen Hose nach Hause. Ach ja, und wenn wir schon dabei sind: Mindestens einmal in der Woche geht auch das Fahrrad kaputt, weil man damit lieber «Wheelies» macht, als ordentlich zu fahren, oder weil wieder irgendwelche Kinder meinen, sie müssten das Licht der anderen kaputt machen, deren Reifen «lüftelen» oder was auch immer. Und hey, die Schuhe. Ich muss ständig neue Schuhe kaufen. Aber jetzt schweife ich ab …
Ich erwähne dieses Verhalten bewusst bei Jungs, wohl wissend, dass es sicher auch Mädchen gibt die Rabauken sind. Und klar ist ebenso, dass es auch ruhigere Buben gibt. Aber wir sind uns wohl einig, dass die «wilden Züge» häufiger bei Jungs zu finden sind. Diese jungen Kerle provozieren, sind laut und rebellisch. Und am liebsten ärgern sie die Mädchen. Je älter sie werden, desto mehr wollen sie das übrigens - irgendwie logisch, oder? Und das war imfall schon immer so. Buben sind wild, brauchen viel Bewegung und haben den natürlichen Drang ihre Kräfte zu messen. Und nein, beim Makramee knüpfen oder Bilder ausmalen kann man seine Kräfte nicht wirklich messen ... Item.
Ich weiss sehr wohl, dass die «kleinen Pappenheimer» keine Engel sind, egal ob Bub oder Mädchen. Auch Streiche und «komische Gedanken» von Kindern gehören ebenfalls zur Entwicklung dazu. Und trotzdem, oder gerade deshalb, wünsche ich mir von allen Lehrpersonen, aber unbedingt auch von den Eltern, dass sie die «Rangkämpfe» unter den Kindern aushalten. Und noch einmal: Egal ob Mädchen oder Junge. Das ist ein natürlicher Lern- und Entwicklungsprozess, nicht mehr und nicht weniger. Natürlich ist das nicht immer leicht. Oft möchte man sich wie ein Löwe vor das Rudel werfen und seine Prinzessin oder seinen Prinzen vor allem und jedem beschützen, aber sehr oft ist das einfach nicht nötig. Ich gehe noch einen Schritt weiter: Es ist sogar kontraproduktiv. Ich glaube nicht, dass es zur natürlichen Entwicklung gehört, Kinder in Watte zu packen und auch nicht, dass bei jedem Streit auf dem Schulweg die Eltern hingehen, um zu schlichten. Man kann sie nämlich auch einfach machen lassen. Vertrauen heisst das Zauberwort. Ich glaube, dass unsere Kinder für die Zukunft viel mehr davon haben, wenn sie lernen, Konflikte selbst zu lösen. Denn spätestens, wenn sie die Verantwortung für ihr Leben übernehmen müssen, werden sie sehr schnell merken: Das Leben ist kein Ponyhof. Und wer dann noch immer in Watte gepackt ist, wird trotzdem hart fallen. Wahrscheinlich sogar noch ein bisschen härter …
Fassen wir also zusammen: Buben sind anders. Mädchen auch. Aber wenn Kinder nicht «anders» sein dürfen, dann läuft irgendetwas gewaltig falsch. Und genau da sollte man ansetzen. Aber darüber schreibe ich vielleicht ein anderes Mal.