Der Teufel trägt Wanderschuhe

Kürzlich haben wir auf einer Wanderung den Teufel gesehen. Er war zwei oder drei Jahre alt, weiblich, steckte mitten in der Trotzphase und hasste das Wandern. Das Mädchen stampfte und schlug um sich, weil es k-e-i-n-e-n M-e-t-e-r weiterlaufen wollte. Die Mutter war kurz vor dem Verzweifeln und ich fühlte mich nullkomaplötzlich zurückversetzt …
Ich wollte mit meinen Kindern möglichst unauffällig an den beiden vorbeilaufen. Gleichzeitig versuchte ich der Mutter per Blick zu signalisieren, dass ich mit ihr fühle. Aber sie war nicht an einem Blickwechsel mit mir interessiert, denn ihr grösstes Anliegen war es gerade, dieses Kind still zu kriegen. Verständlicherweise, denn es war leider nicht zu übersehen, dass sich schon alle nach ihnen umdrehten. Dieses Kind liess nicht mit sich reden und es bewegte sich keinen Zentimeter vom Fleck. Ich schwöre: Inzwischen schrie es nahezu in Ultraschallfrequenzen, weswegen ich mir sogar kurz überlegte, ob ich meinen Kindern die Ohren zuhalten sollte …
Gerade als wir uns an dieser «Sensation» vorbeischleichen wollten, schrie die Mutter das Kind auf einmal an. Die genauen Worte kann und will ich jetzt nicht wiedergeben, die tun nichts zur Sache, aber dieser Moment, wo die Mutter sich die Seele aus dem Leib schrie, ging mir durch Mark und Bein. Jetzt weinte das Kind. Gleichzeitig holte das kleine Mädchen tief Luft und schrie noch lauter als zuvor. Meine Kinder hielten sich nun selbst die Ohren zu. Ich muss zugeben, dass ich einen kurzen Moment etwas perplex war, aber sehr schnell änderte meine Gefühlslage in Mitleid.
Wisst ihr was mich öfters beschäftigt seit ich selbst Kinder habe? Jeder lästert gerne mal bei den Arbeitskollegen über den Chef, bezeichnet einen Mitarbeiter als «faule Sau» oder findet sonst einen unschönen Begriff für seine Mitstreiter. Jeder hat das Recht sich über seinen Job zu beklagen, über die strengen Arbeitszeiten und die langweiligen oder dann eben doch sehr anspruchsvollen Aufgaben. Und jeder bekommt dafür von seinem Umfeld ganz viel Mitgefühl. Aber nie, nie, nie dürfen Eltern etwas Schlechtes über ihr Kind sagen, geschweige denn laut werden und das schon gar nicht in der Öffentlichkeit; das ist ein ungeschriebenes Gesetz! Nein, natürlich ist Schreien nicht gut und ja, klar sollte man im Idealfall Lösungen ohne Gewalt finden – da bin ich absolut dafür. Aber manchmal – ich sage euch – manchmal da «lüpfts» einem einfach den Hut. Ich sage dazu nur «Dampfkochtopf» oder «Louis de Funès» …
Bevor ich jetzt schon wieder abschweife, zurück auf den Wanderweg zum Mutter-Tochter-Gespann. Ganz ehrlich: Am allerliebsten wäre ich zu dieser Frau hingegangen und hätte sie umarmt. Aber man stelle sich vor, wenn da eine Wildfremde daherkommt und dich einfach so in den Arm nimmt. Nichtsdestotrotz: Sie hätte es sicher gebrauchen können. Ja, das Kind hätte es wahrscheinlich auch nötig gehabt, aber ich hatte gerade keine Lust mich mit dem Teufel anzulegen … Diese Mutter machte auf mich übrigens ganz und gar nicht den Eindruck, als würde sie ihr Kind ständig anschreien. Ich hatte eher das Gefühl, dass ist so eine je-länger-man-schweigt-desto-lauter-muss-man-plötzlich-schreien-Sache.
Seit diesem Vorfall frage ich mich immer mal wieder, ob diese Frau mich mit meinen zwei gerade sehr anständigen Jungs wahrgenommen hat. Vielleicht sogar mit einem damit verbundenen Anschein, dass wir eine Bilderbuchfamilie sind. Wir oder auch alle anderen, die da zur selben Zeit am gleichen Ort herumlungerten. Und nein, liebe Unbekannte, so ist es eben nicht immer. Zu gerne hätte ich dir erzählt, dass ich schon oft laut geworden bin und dass mich meine Kinder gefühlt hunderttausend Mal an meine Grenzen gebracht haben. Oder dass ich auch schon diejenige war, die im Mittelpunkt stand, jene, auf die alle schauten, weil eines meiner Kinder durchgedreht ist. Schon so oft war ich genau da, wo du die Tage in deinen Wanderschuhen gestanden hast. Und jedes Mal hatte ich mir gewünscht, dass die Leute nicht auch noch so blöd glotzen, sondern mir lieber gut zureden oder mich im besten Fall umarmen …
Es tut mir sehr leid, dass ich das nicht geschafft habe, liebe Unbekannte, aber ich hoffe, dass du dich heute irgendwie gedrückt fühlst. Zwar nur virtuell, aber dennoch mit ganz viel Mitgefühl. Von Mutter zu Mutter. Von Herz zu Herz.